In the Mood for Love

Selten erhalte ich die Gelegenheit, nicht mehr ganz neue, aber denkwürdige Filme doch noch(mal) auf der großen Leinwand zu sehen. Bei Wong Kar-Wais visuell betörendem “Liebesdrama” In the Mood for Love aus dem Jahre 2000 ergab sich diese glücklicherweise.


In the Mood for Love (Fa Yeung Nin Wah)
Drama Hongkong/China 2000. FSK: Freigegeben ab 6 Jahren. 94 Minuten (PAL-DVD).
Mit: Maggie Cheung, Tony Leung, Rebecca Pan, Kelly Lai Chen, Siu Ping-Lam, Chin Tsi-Ang u.a. Drehbuch und Regie: Wong Kar-Wai.

 

 


Filmkunst für die Ewigkeit

Hongkong 1962. Zwei Ehepaare aus Shanghai ziehen in benachbarte Wohnungen: Herr Chow (Tony Leung), ein Journalist und seine Ehefrau, eine Hotelrezeptionistin sowie Frau Chen (Maggie Cheung), Sekretärin einer Schifffahrtsgesellschaft und ihr Gatte, ein Handelsreisender. Herr Chow und Frau Chen begegnen sich immer wieder auf dem Hausflur oder in der Nachbarschaft. Ihre Ehegatten sind meistens abwesend. Frau Chow auf Schichtdienst im Hotel, Herr Chen weilt fast ständig auf Geschäftsreisen. Nach einigen kleinen Gefälligkeiten, die sich die Nachbarn untereinander erweisen, bekommen Frau Chen und Herrn Chow zufällig mit, dass ihre Ehepartner eine Affäre miteinander haben. Herr Chen scheint Frau Chow sogar auf eine Reise nach Japan mitgenommen zu haben. In gemeinsamen Gesprächen versuchen sich die beiden “Gehörnten” gegenseitig zu helfen. Beide teilen eine Leidenschaft für Kung-Fu-Fortsetzungsgeschichte. Als Herr Chow sich ein Hotelzimmer nimmt, um eine Story zu schreiben, leistet ihm Frau Chen Gesellschaft. Dabei erkennen die beiden, dass sie möglicherweise Gefühle füreinander haben…

Als ich In the Mood for Love vor ziemlich genau dreizehn Jahren das erste Mal sah, war ich wohl noch zu tief im “Blockbuster-Modus” und konnte die schönen Bilder zwar genießen, wusste die “ungewöhnliche” Dramaturgie und die Qualität des Films aber noch nicht zu schätzen. Ein paar Sichtungen später hat sich das grundlegend geändert. Bereits bei der zweiten Sichtung empfand ich die Kameraarbeit als augenöffnend. Die Liebesgeschichte, welche mit fast alltäglicher Beiläufigkeiten erzählt wird und an sich gar keine wirkliche darstellt, funktionierte auch immer besser. Heute gehört Wong Kar-Wais siebte Regie-Arbeit für mich zu den besten Filmen der 2000er Jahre, wenn nicht aller Zeiten. Vor einigen Wochen hatte ich die einmalige Gelegenheit, das Kunstwerk in einer restaurierten HD-Fassung im Open-Air-Kino auf der großen Leinwand zu erleben.

Regisseur Wong Kar-Wai wurde 1958 in Shanghai geboren. Die Kulturrevolution in China veranlasste seine Eltern mit der Familie in das britisch regierte Hongkong zu ziehen. Nach einem Abschluss in Graphik-Design Anfang der 1980er kam Wong zum Fernsehen und schrieb fortan unzählige Drehbücher für Seifenopern, Serien und Filme aus allen möglichen Genres. Der Erfolg der Hongkonger Filmindustrie ermöglichte ihm sein Debüt als Filmregisseur in Form des Gangsterdramas As Tears Go By (1988). Sein zweites Werk als Regisseur war das 1990 erschienene Drama Days of Being Wild über eine Gruppe (emotional) verlorener und zielloser, junger Menschen, die erste Zusammenarbeit mit dem aus Australien stammenden Kameramann Christopher Doyle. Zehn Jahre und vier Filme später erschien In the Mood for Love mit einer Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes. Der chinesische Originaltitel Fa Yeung Nin Wah bedeutet übersetzt in etwa “Die blumigen Jahre”. Für den internationalen Titel wurde der Regisseur durch einen gleichnamigen, von Bryan Ferry interpretieren Song inspiriert.

In der Betrachtung des Films weiß ich ehrlich gesagt fast nicht, wo ich anfangen soll. Denn In the Mood for Love ist ein in sich völlig perfektes Gesamtkunstwerk. Der Regisseur hat jedenfalls eine besondere Herangehensweise an den Inhalt eines Films. Statt im Vorfeld ein detailiertes Drehbuch zu schreiben verzichtet Wong grundsätzlich auf diesen ansonsten unverzichtbaren Aspekt des Filmemachens und erarbeitet die Geschichte beim Dreh mit den Schauspielern beziehungsweise während des Schneidens. Die Dreharbeiten zogen sich im vorliegenden Fall über fünfzehn Monate und diverse angedachte Elemente (Comedy mit Dialogwitz, eine Sexszene mit den beiden Hauptfiguren) wurden nicht umgesetzt oder fanden in der finalen Schnittfassung keine Verwendung. Um den Zugriff der chinesischen Zensurbehörde zu umgehen wurde der größte Teil des Drehs von Peking in die (ehemalige portugiesische Kolonie) Macau verlagert. Weitere Schauplätze waren weniger modernisierte Teile Bangkoks (Thailand), Singapur und die Tempelanlage Angkor Wat in Kambodscha. Wenige Tage vor der Welturaufführung in Cannes am 30. Mai 2000 werkelte Wong Kar-Wai noch am finalen Schnitt. In Deutschland kam In the Mood for Love genau ein halbes Jahr später, am 30. November 2000, in die Kinos.

Ob die Geschichte der beiden, von ihren Ehepartnern hintergangenen, Hauptpersonen als Love Story funktioniert, das liegt wohl im Auge des Betrachters. Dank des sehr spezifischen Settings im Hongkong der 1960er Jahre lässt sich das Werk aber auch als beinahe mikroskopische Gesellschaftsstudie ansehen, in welcher der Fokus auf den beiden Protagonisten liegt und nur wenige Nebenfiguren eine Rolle spielen. Passend dazu bekommt man die “Antagonisten”, die miteinander fremdgehenden Ehegatten von Frau Chen und Herrn Chow, im Grunde gar nicht zu Gesicht. Von Herrn Chen hört man gar nur die Stimme während Frau Chow in zwei Szenen zu sehen ist, allerdings ohne ihr Gesicht zu zeigen. Diese inhaltliche, personelle und visuelle Reduzierung passt zu den hier immer mitschwingenden, vorherrschenden Moralvorstellungen, deren oberstes Gebot wohl Zurückhaltung lautet. Frau Chen und Herr Chow entwickeln Gefühle füreinander, aber der Anstand, die Angst vor dem Gerede der Nachbarn und der Tatsache, dass sie (im Gegensatz zu den “Betrügern”) moralisch unantastbar bleiben wollen, hindert sie daran, diese Zuneigung körperlich auszuleben. Ihre Beziehung bleibt daher platonisch. Zum physischen Kontakt kommt es nur bei seltenen, tröstenden Umarmungen.

Die beengte Atmosphäre schlägt sich auch in der Bildgestaltung nieder. Ehrlich gesagt habe ich vorher und nachher keinen Film mit kurioseren Kamerapositionen und -perspektiven gesehen. Die von Wongs langjährigem Weggefährten Christopher Doyle sowie dem Taiwanesen Mark Lee Ping-Bin geführte Kamera wirkt wie ein heimlicher Beobachter der Geschehnisse, positioniert sich dabei nicht direkt bei den Figuren, sondern im Nebenraum oder filmt die Szenen durch Fenster, Gänge oder aus einem weit entfernten Winkel des Zimmers. Neben Doyle und Lee hat Wong aber in William Chang einen fast noch wichtigeren Komplizen in der Erschaffung der Welt von In the Mood for Love. Chang zeichnete nicht nur für den Schnitt verantwortlich, sondern entwarf auch die gleichzeitig fuktionalen und schönen Kulissen sowie die Kostüme, von denen vor allem die farbenprächtigen Kleider von Frau Chen in lebendiger Erinnerung bleiben. Hauptdarstellerin Maggie Cheung trug während der langen Drehzeit 46 verschiedene Qipaos (auch Cheongsams genannt), von denen allerdings nicht alle im fertigen Film zu sehen sind. Diese Art von populärem chinesischen Kleidungsstück des 20. Jahrhundert steht mit einer Länge bis zum Knöchel und dem hochgeschlossenen Kragen für die Restriktionen der hier gezeigten Gesellschaft.

Überaus zurückhaltend gestalten Tony Leung Chiu-Wai (nicht zu verwechseln mit Tony Leung Ka-Fai, bekannt aus Der Liebhaber) und Maggie Cheung Man-Yuk ihre Performances. Und trotz aller Selbstbeherrschung kann man als Zuschauer dennoch die Einsamkeit und Enttäuschung in ihren Gesichtern erkennen, wobei Cheung als Frau Chen hier etwas mehr Emotionen zeigen darf. Beide Akteure hatten zuvor gemeinsam in Days of Being Wild und Ashes of Time (1994) für Wong vor der Kamera gestanden. Die überaus nostalgische Szenerie wird perfekt durch die musikalische Untermalung abgerundet. Der Amerikaner Michael Galasso (1949-2009) komponierte den Score. Es kam aber überwiegend bereits vorher veröffentlichte Musik zum Einsatz, wie drei von Jazz-Sänger Nat King Cole (1919-1965) interpretierte, spanischsprachige Songs (darunter Quizás, quizás, quizás; auch bekannt in der englischsprachigen Version) und traditionelle chinesische Melodien und Opernstücke. Das musikalische Centerpiece bildet Shigero Umebayashis Yumeji’s Theme. Das ursprünglich für den gleichnamigen japanischen Film von Seijun Suzuki komponierte Thema illustriert mit seinen wehmütigen Streichern gekonnt die emotionale Situation der zentralen Charaktere und lässt diese in unzähligen Wiederholungen eine Art Reigen tanzen, meistens wenn Frau Chen und Herr Chow abwechselnd in verlangsamter Zeitspanne die Treppen zum Haus hin- oder hinunterlaufen. Diese unzähligen Montageszenen symbolisieren in Perfektion die Geschichte des Protagonisten-Duos.

In the Mood for Love konnte nach seiner Premiere viele Preise gewinnen. Tony Leung wurde als bester Darsteller in Cannes ausgezeichnet, während Doyle, Lee Ping-Bin und Chang den Grand Prix für die technische Umsetzung erhielten. Außerdem gab es unter anderem fünf Hongkong Film Awards und den Deutschen Filmpreis für den besten ausländischen Film 2001. Die Kulturredaktion der BBC veröffentlichte im August 2016 ihr Liste der 100 bedeutendsten Filme des 21. Jahrhunderts, welche aus einer Umfrage unter 177 Filmkritikern, Wissenschaftlern und Kuratoren hervorging. In the Mood for Love landete auf Platz zwei. Zurecht.

Mit Days of Being Wild und dem 2004 ebenfalls in Cannes veröffentlichten 2046 bildet In the Mood for Love eine informelle Trilogie. Tony Leungs Herr Chow ist in der Schlussszene von “Days” zu sehen während Maggie Cheung eine Frau gleichen Namens wie im Nachfolger spielt. 2046 handelt von Herrn Chows weiteren Liebesaffären und einem von ihm verfassten Science-Fiction-Roman, wobei Frau Chen in einer Rückblende zu sehen ist.

In the Mood for Love ist über die Jahre in verschiedenen Ausgaben auf DVD erschienen. Am 25. November 2021 erscheint der Film auf UHD-Bluray.

Fazit: Zwei “betrogene” Menschen finden zusammen und erleben doch keine echte Liebesgeschichte. Wong Kar-Wai macht aus diesem Stoff vor allem dank der genialen Kameraführung von Christopher Doyle und Mark Lee Ping Bin einen wunderschönen Begegnungs- und Bilderreigen, der inhaltlich, visuell und musikalisch kaum zu toppen ist. Das gibt nach mehrmaliger Sichtung 46 von 46 farbenfrohen Qipaos.

 



Marius Joa, 12. September 2021. Bilder: Universal/LEONINE/Koch Films.

 

 

 

 

 

 

 


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