Mulholland Drive

In Hollywood begegnen sich eine naive Jungschauspielerin und eine geheimnisvolle Frau ohne Gedächtnis während ein Regisseur seinen neuen Film umzusetzen versucht, in David Lynchs Mulholland Drive, der Anfang Februar 2022 wieder im Kino gezeigt wurde.


Mulholland Drive – Straße der Finsternis (Mulholland Drive)
Mystery USA, Frankreich 2001. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 147 Minuten.
Kinostart: 3. Januar 2002.
Mit: Naomi Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux, Ann Miller, Mark Pellegrino, Dan Hedaya u.v.a. Drehbuch und Regie: David Lynch.

 


Traum und Alptraum

Los Angeles. Die junge Betty Elms (Naomi Watts) kommt frisch aus Kanada, um sich in Hollywood als Schauspielerin zu versuchen. Während ihres Aufenthalts wohnt Betty im edlen Apartment ihrer Tante Ruth, einer erfolgreichen Schauspielerin, die derzeit für Dreharbeiten in Europa weilt. Kurz nach ihrer Ankunft bemerkt Betty, dass sich eine geheimnisvolle Frau (Laura Elena Harring) in der Wohnung aufhält. Zuerst hält Betty die Unbekannte, welche sich selbst Rita nennt, für eine Freundin ihrer Tante. Doch Rita offenbart, dass sie nach einem Unfall ihr Gedächnis verloren hat und sich nicht mehr an ihre Identität erinnern kann. Dadurch wird Bettys Neugier geweckt. Sie lässt Rita weiterhin bei sich wohnen und überzeugt sie, Nachforschungen zum Unfall anzustellen. Unterdessen will der aufstrebende Regisseur Adam Kesher (Justin Theroux) seinen neuen Film vorbereiten, doch soll er auf Betreiben seines Managers die weibliche Hauptrolle nur mit einer bestimmten Darstellerin besetzen. So wollen es zumindest zwei Mafia-Brüder (Dan Hedaya, Angelo Badalamenti). Als sich Adam diesen Forderungen widersetzt droht sein Leben aus den Fugen zu geraten. Bettys und Ritas Ermittlungen führen derweil zu einem Apartment-Komplex, wo sie nach einer Frau namens Diane suchen…

Auch als Filmfan, der seit 1990 ins Kino geht und seit nunmehr 20 Jahren Filmrezensionen schreibt, hat man so seine cineastischen Bildungslücken, deren sukzessive Behebung quasi zur unendlichen Lebensaufgabe gehören. Von David Lynch (geboren 1946), dem Meister des Unerklärlichen und Surrealen, habe ich bisher noch nicht wirklich viel gesehen, nämlich nur seine Verfilmung von Frank Herberts Science-Fiction-Epos Dune (1984), beide Original-Staffeln von Twin Peaks (1990/91), den dazugehörigen Film Twin Peaks: Fire Walk With Me (1992), die Rückkehr von 2017 sowie die 2020 online veröffentlichten Kurzfilme What Did Jack Do? und Fire (PoZar). Die vom Verleih Studiocanal ins Leben gerufene Reihe Best of Cinema, in deren Rahmen Filmklassiker für einen Tag wieder in die Kinos gebracht werden, bot dazu Gelegenheit. Denn am 1. Februar 2022 wurde Mulholland Drive (2001) erstmals in 4K auf der großen Leinwand gezeigt. In einer unter 177 professionellen Filmkritikern durchgeführten Umfrage der BBC wurde das Werk 2016 in der Liste der besten Filme des 21. Jahrhunderts auf Platz 1 gewählt. Zum absolut besten Film seit 2000 würde ich persönlich Mulholland Drive nicht wählen, aber ein in vielerlei Hinsicht herausragendes Kinoerlebnis hat Lynch auf jeden Fall geschaffen.

In den oben erwähnten Arbeiten (vielleicht mit Ausnahme von Dune) des US-amerikanischen Indie-Filmemachers bekommt man, so denke ich, schon ein Gefühl für seine Handschrift und Markenzeichen. Lynch beschwört in alltäglichen Settings unheimliche, finstere Mächte (z.B. BOB in Twin Peaks oder das Monster hinter dem Diner hier) und unerklärliche Phänomene. Seine Werke liefern keine Auflösung oder Erklärung, sondern laden den Zuschauer zum Nachdenken, Rätseln und Interpretieren ein. Lynch selbst lehnt es ab, eindeutige Aussagen zu machen, und so kursieren sogar unter den mitwirkenden Schauspielern unterschiedliche Interpretationsansätze, auch bei Mulholland Drive. Als Ausgangspunkt dient oft eine triviale Story (bei den gefühlt uferlosen Seifenopernplots in Twin Peaks fast auf die Spitze getrieben), welche sich dann aber in eine surreale Richtung entwickelt. Hier ist es ein Film-Noir-Szenario mit der von Laura Elena Harring (Sunset Beach) verkörperten Rita als Femme Fatale. Ihr Partner ist allerdings kein abgehalfterter, desillusionierter männlicher Detektiv, sondern die eher naive Schauspielanfängerin Betty, gespielt von der damals noch nicht sehr bekannten Naomi Watts (The Ring, King Kong [2005]). Die gemeinsame Suche der beiden nach Antworten bildet zumindest in den ersten ca. 80 Prozent der Laufzeit den Hauptplot. Parallel dreht sich die Handlung um Filmemacher Adam und seine Erlebnisse. Darüberhinaus streut das Drehbuch immer wieder Szenen und Figuren ein, die teils losgelöst von anderen Handlungssträngen funktionieren, etwa der von einem gruseligen Traum verängstigte Mann im Diner, der etwas unglücklich agierende Auftragskiller oder mysteriöse Hintermänner, welche als Strippenzieher in der Filmbranche zu agieren scheinen.

Im letzten Fünftel mutiert die Geschichte allerdings zu etwas völlig Anderem. Die Darstellerinnen sind die gleichen, aber sie spielen plötzlich andere Rollen. Inhaltliche und personelle Überschneidungen mit dem Betty-und-Rita-Plot gibt es, aber so richtig zusammenpassen will und soll das alles nicht. Spätestens hier zelebriert Lynch eine surreale, teils albtraumhaft-groteske Atmosphäre und “vollendet” die Angelegenheit mit diversen Zeitsprüngen. Ich muss zugeben, dass mich die Verwirrung über das Gezeigte eher fasziniert als irritiert hat. Wer eine von vorn bis hinten vorgekaute Geschichte erwartet ist bei Lynch im komplett falschen Film. Wenn man das weiß und akzeptiert kann Mulholland Drive seine “anderweltliche” Wirkung entfalten. Und der Altmeister versteht es auch immer wieder genüsslich auf seine Art Humor einzustreuen, in Form von albernen Slapstickszenen oder schrägen Offbeat-Situationen.

Die halbe Miete bei der Erzeugung der Stimmung wird durch die herausragende Musik von Lynchs Weggefährten Angelo Badalamenti erreicht, der hier einen kleinen Part als Mafia-Scherge absolviert und bereits Twin Peaks mit seiner Kunst grandios zum Leben erweckt hatte. Badalamentis Score alterniert virtuos zwischen düsteren Keyboard-Melodien, bewegend-minimalistischen Streicher-Passagen, kraftvollem Post-Rock und lässigem Jazz. Ohne Badalamenti, der die Scores zu fast allen Lynch-Werken seit Blue Velvet (1986) komponierte, hätten die Arbeiten des 76jährigen Regisseurs nicht dieselbe Wirkung. Ein perfektes Zusammenspiel von Inszenierung und Musik.

Mulholland Drive ist auf DVD und BluRay (auch in der 4K-Version) erschienen sowie bei diversen Streaminganbietern verfügbar.

Fazit: Rätselhaftes, teils hypnotisch-unheimliches Neo-Noir-Mysterypuzzle von Altmeister Lynch, mit dem starken Doppel Naomi Watts und Laura Elena Harring in den Hauptrollen sowie einem einmaligen Score von Angelo Badalamenti. 9 von 10 Punkten.


Betty und Rita auf der Suche

Adam beim Drehen
 

Der Mann im Hintergrund

 


Marius Joa, 13. Februar 2022. Bilder: Studiocanal.

 

 


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