In die Sonne schauen

Bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes gewann mit In die Sonne schauen ein deutscher Film den Preis der Jury. Das Drama von Mascha Schilinski erzählt die Geschichten verschiedener Mädchen über vier Zeitebenen.   

In die Sonne schauen
Mystery-Drama Deutschland 2025. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 149 Minuten. Kinostart: 28. August 2025.
Mit: Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler, Lea Drinda, Susanne Wuest, Luise Heyer, Claudia Geisler-Bading, Florian Geißelmann, Lucas Prisor, Konstantin Lindhorst, Filip Schnack, Ninel Geiger, Greta Krämer, Luzia Oppermann, Zoë Baier u.v.a. Drehbuch: Mascha Schilinski und Louise Peter. Regie: Mascha Schilinski.



In den Abgrund blicken

Auf einem Bauernhof in der Altmark (im Norden des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt). In den 1910er Jahren lebt die kleine Alma (Hanna Heckt) dort mit ihrer Familie. Almas älterem Bruder Fritz (Filip Schnack) muss nach einem Unfall das Beim amputiert werden. Durch eine Fotografie entdeckt das kleine Mädchen, dass sie nach einer verstorbenen Schwester benannt wurde. Almas Mutter Emma (Susanne Wuest) erträgt das harte Leben nur mit Mühe. In den 1940ern entwickelt die junge Erika (Lea Drinda) eine problematische Faszination für ihren verkrüppelten Onkel (Martin Rother). Immer wieder beobachteten sie ihn beim Schlafen und fertigt Zeichnungen an. Zudem stellt sich Erika vor, ebenfalls körperlich versehrt zu sein.

In den 1980er Jahren bewohnt Angelika (Lena Urzendowsky) mit ihrer Familie den Hof. Das Mädchen erlebt das Erwachen der eigenen Sexualität und die Aufmerksamkeit ihres Onkels Uwe (Konstantin Lindhorst). Auch ihr Cousin Rainer (Florian Geißelmann) beginnt sich für sie zu interessieren. Angelikas Mutter Irm (Claudia Geisler-Bading) versucht die eigene Traurigkeit zu überspielen. Vier Jahrzehnte später zieht Lenka (Laeni Geiseler) mit ihrer kleinen Schwester Nelly (Zoë Baier) sowie ihren Eltern Christa (Luise Heyer) und Hannes (Lucas Prisor) auf den alten Bauernhof, um diesen komplett zu renovieren. Lenka trifft auf Nachbarstochter Kaya (Ninel Geiger), die vor kurzem ihre Mutter verloren hat.

Angelika

Die Idee zum Film kam Regisseurin Mascha Schilinski und ihrer Co-Autorin Louise Peter beim Besuch eines Vierseithofes (einem Bauernhof, der an vier Seiten von Gebäuden umschlossen ist) in Sachsen-Anhalt. Die Frage danach, wer auf diesem Hof in den letzten gut hundert Jahren gelebt habe und was dort alles passiert sein könnte, bildete den Ausgangspunkt des Drehbuchs. Die Dreharbeiten fanden von Juli bis September 2023 auf einem Vierseithof im kleinen Dorf Neulingen (Stadt Arendsee, Landkreis Salzwedel) und im Havelberger Ortsteil Vehlgast (Landkreis Stendal) in Sachsen-Anhalt statt. Die Bewohner*innen von Neulingen waren beim Umräumen der Gebäude und der Recherche zu den früheren landwirtschaftlichen Methoden in die Produktion involviert. Nach der Weltpremiere bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Cannes im Mai 2025 erhielt In die Sonne schauen den Preis der Jury.

Regisseurin Schilinski (Die Tochter, 2017) liefert mit ihrem zweiten abendfüllenden Spielfilm ein stark komponiertes und intensives Mosaik über vier, teils direkt und teils eher lose verbundene Zeitebenen. Ein Werk, das lange nachhallt und die Zuschauer*innen mit seinem unangenehmen, überwiegend düsteren Reigen aus Kindheit, Leben, Tod, Unterdrückung und anderen Schicksalsschlägen fordert. Die Vorfahren der porträtierten weiblichen Figuren geistern nach ihrem Tod durch den Bauernhof und die Köpfe ihrer Nachkommen.

Erzählt werden die Geschichten von Alma, Erika, Angelika und Lenka bzw. ihren Angehörigen nicht chronologisch nacheinander, sondern im Wechsel. Verwandtschaftsbeziehungen, von denen manche erklärt werden, und Motive verbinden die vier Handlungsstränge miteinander. Alle vier vereint eine gewisse Schwermut und Todessehnsucht. Auch Lenka und Nelly in den 2020er Jahren, die gesund und behütet aufgewachsen sind.

Die siebenjährige Alma verbringt zwar eine im Rahmen der harten Lebensumstände auf dem Hof in den 1910er recht positive Kindheit, bekommt das Elend aber dennoch mit. Alma blickt in Abgründe, welche sie aufgrund ihres jungen Alters noch nicht verstehen kann. Angelika dagegen beginnt diese langsam zu verstehen. Für die Mütter beider Mädchen ist wiederum das Verarbeiten von Verlusten und Schicksalsschlägen ein täglicher Kampf. Schilinski und Peter konzentrieren sich auf die weibliche Perspektive. Mädchen und Frauen tragen einen Großteil der emotionalen, psychischen, physischen und gesellschaftlichen Last, verstärkt durch patriarchalische Unterdrückung.

In die Sonne schauen versammelt die Traumata der Vergangenheit als allgegenwärtige, nicht sichtbare Kräfte. Das quadratische Bildformat und die sehr unmittelbare Kameraführung vermitteln das Gefühl von Enge. Das assoziative Story-Geflecht entsteht vor allem durch die präzise Montage. Die unheilschwangere Atmosphäre erzeugt das sehr präsente Sounddesign, das selbst eigentlich positiven Szenen eine dunkle Note verleiht. Aus dem homogenen, überaus authentischen Ensemble ragen die zum Zeitpunkt des Drehs achtlährige Hanna Heckt als Alma sowie Susanne Wuest als Almas Mutter Emma, Lena Urzendowsky als Angelika und Laeni Geisler als Lenka schauspielerisch heraus.   

Fazit: Virtuos komponiertes und stark gespieltes Mosaik über vier Generationen von Mädchen und Frauen bzw. deren Verbindungen. 9 von 10 Punkten.

Alma und ihre Uroma
Erika
Lenka



Marius Joa, 7. September 2025. Bilder: Neue Visionen.

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