Poor Things

Gleich mein erster Kinobesuch dieses Jahr entpuppte sich als besonderer. Denn Yorgos Lanthimos (The Killing of a Sacred Deer, The Favourite) hat mit Poor Things einen im besten Sinne eigenwilligen Film geschaffen.

Poor Things
Science-Fiction-Drama/Satire Irland, UK, USA 2023. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 142 Minuten. Kinostart: 18. Januar 2024.
Mit: Emma Stone, Mark Ruffalo, Ramy Youssef, Willem Dafoe, Vicki Pepperdine, Jerrod Carmichael, Hannah Schygulla, Kathryn Hunter, Christopher Abbott u.v.a. Nach dem Roman von Alasdair Gray. Drehbuch: Tony McNamara. Regie: Yorgos Lanthimos.



Die Emanzipation von Frankensteins Tochter

Im Viktorianischen London. Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) ist ein entstellter, aber in der medizinischen Fachwelt anerkannter Anatomie-Professor. Heimlich hat er die Leiche einer Frau aus der Themse geborgen, diese wiederbelebt und ihr das Gehirn eines Babys eingesetzt. Das Ergebnis dieses kuriosen Experiments ist Bella (Emma Stone), die zwar den Körper einer Erwachsenen besitzt, aber den Verstand eines Kleinkindes. Dennoch lernt Bella sehr schnell. Um ihren Fortschritt zu dokumentieren hat Dr. Baxter den jungen Arzt Max McCandles (Ramy Youssef) engagiert, der Bella den ganzen Tag beobachtet. Kurz nachdem die junge Frau ihren eigenen Körper entdeckt brennt sie mit den windigen Anwalt und Lebemann Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durch, um die Welt zu entdecken.

In den letzten Jahren hat sich Yorgos Lanthimos (geboren 1973) einen Namen als Regisseur ungewöhnlicher, um nicht zu sagen verrückter Filme, gemacht. Nach seinem ersten englischsprachigen Langfilm The Lobster (2015), in welcher Singles schnell eine neue bessere Hälfte finden müssen, bevor sie sich sonst in Tiere verwandeln, drehte der griechische Filmemacher das verstörende Drama The Killing of a Sacred Deer (2017), in welchem die antike Tragödie Iphigenia in Aulis lose auf die Gegenwart adaptiert wurde. The Favourite (2018), ein satirisches überspitzes Historiendrama mit drei Frauen im Mittelpunkt, erhielt einen Oscar für Hauptdarstellerin Olivia Colman. Mit elf Nominierungen ist auch Lanthimos‘ neuer Film gut im Rennen um die begehrten Academy Awards. Und nach der Sichtung von Poor Things kann ich nur bestätigen: zurecht.

Klammert man mal den Inhalt aus so erscheint allein die von Lanthimos gemeinsam mit den Szenenbildner*innen Shona Heath und James Price (Judy [2019]) sowie Kostümdesignerin Holly Waddington (Lady Macbeth, The Great) geschaffene Welt überaus beeindruckend. Die Szenerie in London erinnert an ein alternatives viktorianisches Zeitalter mit dezenten Steampunk-Elementen. Im späteren Verlauf während der Reisen Bellas und Duncans trägt das Ambiente verstärkt märchenhafte Züge mit futuristischen Anleihen à la Terry Gilliam, etwa mit den Luftschiffen in Lissabon. Für die Dreharbeiten, welche komplett in einem Studio in Budapest stattfanden, wurden die ausufernden Sets alle handbemalt, was zur surrealen Ästhetik des Films maßgeblich beiträgt.

Etwa die erste halbe Stunde ist fast ausschließlich in Schwarzweiß, erst als Bella das Haus ihrer Schöpfers verlässt, werden die Bilder farbig. Der irische Kameramann Robbie Ryan verwendet häufig die Schlüsselloch-Optik und andere Möglichkeiten, der perspektivischen Verzerrung, ähnlich wie er es schon bei The Favourite tat. Als herrlich schräg und unberechenbar (passend zur Protagonistin) erweist sich auch der Score von Filmmusik-Debüttant Jerskin Fendrix, mit seiner errativ-lauten Mischung aus Orgeln, Dudelsäcken, Holzblasinstrumenten und Klöppeln sowie Vokalisationen.

Das Drehbuch von Tony McNamara, Co-Autor von The Favourite und Schöpfer der genialen, satirischen Historienserie The Great (2020-2023), basiert auf dem gleichnamigen Roman des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray (1935-2019). Sowohl Vorlage als auch Adaption denken die Geschichte von Mary Shelleys bahnbrechendem Roman Frankenstein (1818) konsequent weiter. Bella ist als Geschöpf von Dr. Godwin (eine Anspielung auf Shelleys Geburtsnamen) Baxter ganz klar als Frankensteins Tochter zu verstehen. Wobei der entstellte Schöpfer selbst eine Art schaurige Kreatur darstellt, da er als Kind von seinem eigenen Vater schaurigen medizinischen Experimenten unterzogen wurde und deswegen z.B. keine eigene Magensäure mehr produzieren kann.

Poor Things bildet aber vor allem die Emanzipationsgeschichte Bellas, ihre Entdeckung der Welt und des eigenen Selbst, lange Zeit mit kindlicher Naivität, später mit zunehmend analystischem Verstand. Ihr Liebhaber/Reisegefährte sieht sie als naive Bettgespielin, doch Bella lässt sich das auf Dauer nicht gefallen und hat ihren eigenen Willen. Die distanzlose Art der Protagonistin und ihr loses Mundwerk sorgen durchgehend für äußerst humorvolle Momente. Und Emma Stone, welche als Hofdame in The Favourite schon mit vollem Einsatz um die Gunst der gebrechlichen Königin kämpfte, liefert hier eine kurios-hochklassige Performance ab. Die Story und die Figur Bella Baxter erweisen sich beide als gleichermaßen unberechenbar.  

Fast genauso hochkarätig agiert auch das übrige Ensemble. Der ohnehin schon mit einem markant-kantigen Gesicht gesegnete Willem Dafoe (Nightmare Alley) gibt hier den schaurigen, aber keineswegs bösartigen Dr. Baxter. Ramy Youssef (Ramy) wirkt als Marc McCandles, Baxters gutmütiger Assistent, sehr sympathisch. Mark Ruffalo (Bruce Banner/Hulk aus dem Marvel Cinematic Universe) kostet seine Rolle als eitler Lebemann Duncan Wedderburn genüsslich aus. In weiteren Rollen sehen wir unter anderem Kathryn Hunter (The Tragedy of Macbeth [2021], Landscapers) als schmierige Bordellbetreiberin Madame Swiney und Hannah Schygulla (bekannt aus diversen Filmen von Rainer Werner Fassbinder) als Bellas Reisebekanntschaft Martha.       

Fazit: Emma Stone brilliert als Frankensteins Tochter auf Entdeckungsreise in Yorgos Lanthimos‘ schräg-surrealer Satire Poor Things. 9 von 10 Punkten.


Dr. Godwin Baxter
Duncan Wedderburn umgarnt Bella



Marius Joa, 26. Januar 2024. Bilder: Searchlight.


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