We Need to Talk About Kevin

In ihrer mittlerweile vier Jahrzehnten andauernden Karriere als Schauspielerin hat Tilda Swinton (63) schon die unterschiedlichsten Rollen mit Leben gefüllt. In Lynne Ramsays We Need to Talk About Kevin spielte sie die Mutter des titelgebenden Psychopathen.

We Need to Talk About Kevin
Psycho-Drama UK, USA 2011. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 112 Minuten. Kinostart: 16. August 2012.
Mit: Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller, Jasper Newell, Ashley Gerasimovich, Siobhan Fallon Hogan u.a. Nach dem Roman von Lionel Shriver. Drehbuch: Lynne Ramsay und Rory Stewart Kinnear. Regie: Lynne Ramsay.



Die Hölle einer Mutter

Einst war Eva Khatchadourian (Tilda Swinton) eine gefeierte Autorin von Reise-Ratgebern. Nun kann sie froh sein, einen Job als Bürohilfe im Reisebüro der miesgelaunten Wanda (Siobhan Fallon Hogan). Denn Evas Sohn Kevin (Ezra Miller) hat vor einigen Monaten einen Amoklauf mit mehreren Toten und einigen Verletzten begangen, sondern auch die eigene Familie zerstört. Allein und von Nachbarn gemieden und angegriffen fristet Kevins Mutter eine traurige Existenz. Immer wieder wird ihr Haus von einem wütenden Mob mit roter Farbe verunstaltet.

Früher waren Eva und ihr Mann Franklin (John C. Reilly) ein glückliches Paar, das von New York in ein großes Haus in der Provinz umzog. Die Situation änderte sich aber mit der Geburt des Sohnes Kevin. Eva wirkt in ihrer Mutterrolle nicht glücklich, versucht aber alles, um einen Zugang zu ihrem Kind zu finden und eine gute Mutter zu sein. Doch bereits als kleiner Junge (Jasper Newell) zeigt sich Kevin gegenüber Eva als kalt und trotzig, während er seinem Vater das brave Kind vorspielt. Als Teenager verschärft sich die Situation mit Kevins (nun: Ezra Miller) verstärkt sadistischen Tendenzen, auch gegenüber seiner kleinen Schwester Celia (Ashley Gerasimovich)…

Menschliches Verhalten geht zu einem großen Teil auf die eigene Familie zurück. Wir alle sind mehr oder minder das Produkt unserer Erziehung, obgleich Teile der individuellen Persönlichkeit vermutlich irgendwie in uns bereits existieren. Doch was wenn bereits in einem kleinen Kind das Böse schlummert, dem selbst fürsorgliche Eltern nicht entgegenwirken können? Diese Situation erforscht die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay (geboren 1969) in ihrem dritten Spielfilm We Need to Talk About Kevin, welcher auf dem gleichnamigen Roman der amerikanischen Autorin Lionel Shriver von 2003 basiert.

Im Nachgang jugendlicher Amokläufe wie 1999 an der Columbine High School von Littleton im US-Bundesstaat Colorado oder 2009 in Winnenden (Baden-Württemberg) bleibt nicht nur die Frage, wie es zu solchen schrecklichen Taten kommen konnte, sondern auch ob Personen aus dem Umfeld der Täter wie Eltern und Lehrer*innen diese hätten verhindern können. Ramsay verstärkt diese Frage in ihrem Film zu einem Dilemma von Kevins Mutter. Denn Eva war zumindest bei ihrem ersten Kind keinesfalls glücklich und es wird zumindest angedeutet, dass es ihr generell schwer fiel zu ihrem Sohn eine Bindung aufzubauen. Doch erweist sich der Sproß schon von klein auf als Psychopath, der sich seinem ignoranten Vater gegenüber als liebevolles Kind präsentiert, für seine Mutter und später auch die kleine Schwester nur Verachtung übrig hat.     

Welche Schuld an den Gräueltaten ihres Sohnes kann also bei einer Frau liegen, die sich fortwährend um ihr Kind bemüht hat? Liegt die Verantwortung zumindest teilweise nicht beim ignoranten Vater, der meist durch Abwesenheit glänzte und auf das falsche Spiel seines Sprösslings hereinfiel, auch weil er sich nicht die Mühe gemacht hat, die Angelegenheit genauer zu erforschen? Dennoch bleiben diese Fragestellungen müßig. Schließlich erweist sich die Titelfigur schon früh als echter Satansbraten, wie er im (Horror-Dreh-)Buch steht. Nichtsdestotrotz hat Ramsay hier keinen klassischen Horrorfilm geschaffen.

Stattdessen inszeniert sie das teils schleichende Märtyrium von Eva als ruhigen und zugleich verstörenden Albtraum, in welchem die Ereignisse sukzessive in langen Rückblenden enthüllt werden, wie bei einem schaurigen Puzzle. Neben dem wirklich eiseskalten Ezra Miller (Vielleicht lieber morgen, The Flash [2023]) als Titelfigur im Teenageralter liefert Tilda Swinton, die eigentlich immer schauspielerisch zu glänzen weiß, als Mutter in der Hölle eine Highlight-Performance in ihrer vielfältigen Laufbahn.     
We Need to Talk About Kevin ist seit November 2012 auf DVD und BluRay erhältlich sowie aktuell bei den Streaminganbietern Filmfriend und Freevee abrufbar.

Fazit: Verstörendes, ruhig-wirkungsvoll inszeniertes Drama über einen Psychopathen, erzählt aus der Sicht seiner Mutter, von Tilda Swinton herausragend gespielt. 9 von 10 Punkten.


Eva versteht ihren Sohn nicht
Kevin als Teenager
Eva am Ort des Amoklaufs



Marius Joa, 14. April 2024. Bilder: Bavaria Film/EuroVideo.


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