Märchen können auch der blanke Horror sein. Das beweist Regisseurin Emilie Blichfeldt mit ihrem Langfilmdebüt The Ugly Stepsister, in welchem sie das bekannte Märchen Aschenputtel durch den Beauty-Horror-Fleischwolf dreht und aus Sicht der Stiefschwester erzählt.
—

The Ugly Stepsister (Den Stygge Stesøsteren)
Horror Norwegen, Polen, Schweden, Dänemark 2025. FSK: Freigegeben ab 16 Jahren. 105 Minuten. Kinostart: 5. Juni 2025.
Mit: Lea Myren, Ane Dahl Torp, Thea Sofie Loch Næss, Flo Fagerli, Isac Calmroth, Malte Myrenberg Gårdinger, Cecilia Forss, Katarzyna Herman, Adam Lundgren u.v.a. Nach Aschenputtel von den Gebrüdern Grimm. Drehbuch und Regie: Emilie Blichfeldt.

—
Aschenputtel als Beauty-Horror
Nach dem Tod ihres Ehemanns heiratet Rebekka (Ane Dahl Torp) den älteren Otto (Ralph Carlsson). Rebekka und ihre Töchter Elvira (Lea Myren) und Alma (Flo Fagerli) ziehen zu Otto und seiner Tochter Agnes (Thea Sofie Loch Næss). Wenig später stirbt der alte Mann und lässt seine alte und neue Familie fast mittellos zurück. In wenigen Monaten wird im nahe gelegenen Schloss ein Ball stattfinden, auf welchem sich Prinz Julian (Isac Calmroth) seine künftige Braut aussuchen soll. Rebekka setzt alles daran, die 18jährige Elvira zur Vorzeige-Kandidatin zu machen und scheut dabei wenig Kosten und Mühen, obwohl eigentlich kaum noch Geld bleibt. Neben Lektionen in Tanz und gutem Benehmen bedeutet dies für Elvira vor allem, dass sie nicht zunehmen darf und sich mehreren überaus schmerzhaften Operationen unterziehen muss. Die hübschere Agnes rechnet sich unterdessen ebenfalls Chancen beim Prinzen aus…
Auch wenn die Literatur- und Sprachwissenschaftlicher Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) ihre bekannte Sammlung Kinder- und Hausmärchen nannten, so waren manche Aspekte der darin enthaltenen Erzählungen alles andere als familienfreundlich, siehe z.B. Dornröschen, Schneewittchen oder Hänsel und Gretel. Für ihren ersten abendfüllenden Spielfilm als Regisseurin hat sich die Norwegerin Emilie Blichfeldt (geboren 1991) das ebenfalls sehr bekannte Märchen Aschenputtel vorgenommen und daraus eine heftigen Horror-Trip über Schönheitswahn und daraus resultierende Selbstverstümmelung gemacht, erzählt aus der Sicht der Stiefschwester, welche hier weder böse noch hässlich ist.

„Wer schön sein will, muss leiden“, lautet ein überaus geläufiges Sprichwort. In Zeiten (a)sozialer Netzwerke präsentieren Influencer*innen eine scheinbar perfekte Beauty-Welt, der richtige Filter vorausgesetzt. Diese Entwicklung der letzten Jahre hat den unrealistischen Drang nach Schönheit, den sonst Models, Schauspieler*innen mit Hochglanzgesichtern und andere scheinbar perfekt aussehende Promis ausgelöst haben, unter vielen vor allem jungen Leuten noch verstärkt. Wie weit man für den perfekten Körper oder Schönheit gehen würde, das haben seit Beginn der 2020er bereits ein paar Filme ausgelotet, nämlich der koreanische Anime Beauty Water (2020) von Cho Kyung-Hon, The Outside (2022), eine von Ana Lily Amirpour inszenierte Episode der Anthologie-Serie Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities, sowie vor allem die überbordende Body-Horror-Satire The Substance (2024) von Coralie Fargeat und – ganz ohne Genre-Elemente – das triste litauische Jugend-Drama Toxic (2024) von Saulė Bliuvaitė.
Blichfeldts mit allerlei heftiger Konsequenz umgesetzte Alptraum-Variante von Aschenputtel liefert nicht nur eine Tour de Force für die Protagonistin und die Zuschauer*innen, sondern auch einen entlarvenden Blick auf ein Frauenbild aus dem 19. Jahrhundert, das leider in unserer Gegenwart leider weniger aus der Mode gekommen ist, als man es sich wünscht. Auf Elvira lastet ein unmenschlich hoher Druck. Sie soll möglichst wunderschön sein, um dem Prinzen zu gefallen oder wenigstens einem der anderen auf dem Ball anwesenden Adeligen. So soll die finanzielle Zukunft der ganzen Familie gesichert werden.
Die Rolle der ärgsten Konkurrentin um die Gunst des Königssohns spielt wie im Märchen üblich das Aschenputtel, eigentlich Agnes genannt, welcher hier allerdings keine bösartigen Absichten hegt, sondern nach dem Verlust der Mutter und des Vaters um die eigene Existenz kämpft, wenngleich mit weniger drastischen Mitteln als ihre Stiefschwester, schlicht und ergreifend weil sie nach gängiger Meinung schöner aussieht.
Das naive Schwärmen Elviras für das Idealbild eines Prinzen, dessen Gedichte sie nah am Herzen trägt, wird durch sein teils herablassendes Verhalten konterkariert. The Ugly Stepsister präsentiert sich auch in gekonnter Weise als düsteres Zerrbild des beliebten CSSR-Märchenfilms Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (1973) von Václav Vorlíček, von welchem es übrigens ein durchaus gelungenes norwegisches Remake (2021) gibt, etwa wenn einzelne Szenen zitiert werden oder sogar das eingängige Titelthema von einer Figur gesummt wird. Blichfeldt und ihr Team liefern allerdings die äußerst finstere Noir-Variante ab. Alles andere als familientauglich und dennoch ein starker Film, der herausfordert.
Fazit: Abgründig-heftige Beauty- und Body-Horror-Variante von Aschenputtel, erzählt aus der Sicht der Stiefschwester. 8 von 10 Punkten.
—


—
Marius Joa, 20. Juni 2025. Bilder: Capelight.
Schreibe einen Kommentar