The Ordinaries

Wie würde die Welt aussehen wenn sie ein Film wäre? Damit hat sich Regisseurin Sophie Linnenbaum in ihrem Meta-Werk The Ordinaries befasst, einem Highlight des 49. Internationalen Filmwochenendes in Würzburg.

The Ordinaries
Science-Fiction/Drama/Komödie Deutschland 2022. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 124 Minuten. Kinostart: 30. März 2023.
Mit: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Sira Faal, Denise M’Baye, Pasquale Aleardi, Noah Tinwa, Martin Umbach u.v.a. Drehbuch: Sophie Linnenbaum und Michael Fetter Nathansky. Regie: Sophie Linnenbaum.


Außerordentlich

Paula (Fine Sendel) ist 16 Jahre alt und träumt von einer Karriere als Hauptfigur. Ihre Prüfung dazu steht unmittelbar bevor. Während Cliffhanger und panisches Schreien zu Paulas Stärken zählen bereitet es ihr immer noch Schwierigkeiten für ihren großen Monolog die richtige Musik zu finden. Ihrer besten Freundin Hannah (Sira Faal), die aus einer reichen Familie mit tollen Musical-Nummern stammt, hat dabei keine Probleme. Paula möchte nicht so wie ihre Mutter (Jule Böwe) enden, die als Nebenfigur nur begrenzte Dialoge und Emotionen zur Verfügung hat. Paulas Vater, so die Mutter, sei eine große Hauptfigur gewesen und beim Aufstand der Outtakes ums Leben gekommen. Auf der Suche nach Inspiration für ihren Monolog recherchiert Paula über ihren Vater und stößt schnell auf Ungereimtheiten. Hilde (Henning Peker), das fehlbesetzte Hausmädchen von Hannahs Familie, hilft Paula bei ihren Nachforschungen und bringt sie erstmals in die Randgebiete der Welt, in welcher die Outtakes und Filmfehler ihr trauriges Dasein fristen…

Sophie Linnenbaum (geboren 1986) hat zwar erst zwei Langfilme inszeniert, dafür bereits einige Kurzfilme, von denen vier auch beim Filmwochenende gezeigt wurden, sowie bei Episoden der Miniserien Deutscher und Druck (beide von 2020) Regie geführt. Nach der Dokumentation Väter Unser (2021), ebenfalls im Programm des Würzburger Festivals, folgte der entgegen seines Titels außerordentliche, erste fiktionale, abendfüllende Beitrag der Filmemacherin und gleichzeitig ihre Abschlussarbeit an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf: The Ordinaries. Ein Werk über eine teils dystopische Filmwelt, bei welcher Hauptfiguren im Mittelpunkt stehen, Nebenfiguren ihren eher unsichtbaren Beitrag leisten und fehlerhafte Figuren verdrängt werden.

Die Idee ist schonmal überaus originell und absurd zugleich. Linnenbaum hatte sich bereits in ihrem Kurzfilm (Out of fra)me von 2016 mit einem ähnlichen Stoff auseinandergesetzt. Darin fällt der Protagonist namens Paul vor lauter Einsamkeit aus dem Bild und kommt nicht wieder hinein. In der Folge lernt er eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Filmfehlern kennen. The Ordinaries bildet quasi die zweistündige Variante dieses Szenarios. Heldin Paula (!) steht kurz davor, sich ihren Lebenstraum eine große Hauptfigur zu erfüllen. Doch vor der alles entscheidenden Prüfung hat sie nicht nur mit musikalisch-emotionalen Ausdrucksproblemen zu kämpfen, sondern blickt hinter die Kulissen einer restriktiven Gesellschaft und muss ihre eigene Identität hinterfragen.

Das von Linnenbaum und ihrem Co-Autor Michael Fetter Nathansky (Doppelhaushälfte) verfasste Drehbuch kombiniert eine klassische Coming-of-Age-Story mit einer lehrreichen Meta-Exkursion darüber wie das Konstrukt Film und seine Bestandteile funktioniert. Die Ästhetik erinnert über weite Strecken an unterschiedliche Dystopien wie George Orwells 1984 und Welt am Draht (1973) von Rainer Werner Fassbinder sowie an die industrielle Tristesse der DDR. Neben Berlin und Hannover wurde auch in Eisenhüttenstadt gedreht.

Insgesamt bietet die unter anderem mit dem Förderpreis Deutsches Kino ausgezeichnete Produktion aber nicht nur wtzige Meta-Unterhaltung, sondern fungiert gleichermaßen auch als sozialkritische Parabel über eine Mehrklassengesellschaft, in welcher Andersartige ausgegrenzt und verfolgt wird. Auch das kritische Hinterfragen des Strebens nach oberflächlicher, äußerlicher Perfektion wie durch Instagram und andere Online-Plattformen vorgelebt wird in die Handlung eingewoben. Darüber hinaus glänzen Sophie Linnenbaum und ihr Team mit einer großartigen inszenatorischen Finesse, die umso höher zu bewerten ist, wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um einen Abschlussfilm mit sehr begrenztem Budget handelt. Die Kombination aus bekannten, überaus präzisen cineastischen Kniffen und kuriosen Einfällen schafft eine surreale, teils humoristische Atmosphäre, in welcher die tollen Schauspieler gedeihen können.

Die hervorragende Fine Sendel (Wir Kinder vom Bahnhof Zoo [2021]) trägt als Protagonistin Paula den Film fast alleine auf ihren jungen Schultern. Henning Peker (Babylon Berlin, Aus dem Nichts) als fehlbesetztes Hausmädchen, Noah Tinwa (Wir sind jetzt, Hübsches Gesicht) als personifizierter Jumpcut, der mit Geräuschen dealt, und Jule Böwe (Gefangene [2006], Das kalte Herz [2016]) in der limitierten Mutterrolle stehen stellvertretend für ein bis in die kleinsten Parts hochklassiges Ensemble. Außerdem gelang es den als deutsche Stimme von unter anderem Kenneth Branagh und Russell Crowe bekannten Synchronsprecher Martin Umbach als Schulleiter zu gewinnen. Sophie Linnenbaum war auf dem Filmwochenende auch präsent und erzählte nach der Vorstellung ihres Films, dass dieser für sie eine Antwort auf das grassierende Problem der Fake News darstelle. Den Titel habe sie in Anlehnung an Superheldenfilme wie The Avengers oder The Incredibles gewählt.

The Ordinaries startet am 30. März 2023 in den deutschen Kinos.

Fazit: The Ordinaries erweist sich als außerordentlich gute Umsetzung einer originell-absurden Idee. 9 von 10 Punkten.

Marius Joa, 29. Januar 2023. Bilder: Notsold/Port-au-Prince Pictures.

Kommentare

Eine Antwort zu „The Ordinaries“

  1. Avatar von Ulrike

    nach zweimaligem Sehen des Trailers war ich noch unschlüssig – jetzt habe ich mich dazu entschieden, mir den Film anzuschauen.

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