Nach unzähligen Schicksalsschlägen hat sich eine junge Frau fast wortwörtlich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen und lässt ihr bisheriges Leben Revue passieren, in Adam Elliots bewegenden Stop-Motion-Animationsfilm Memoiren einer Schnecke.
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Memoiren einer Schnecke (Memoir of a Snail)
Animationsfilm/Tragikomödie Australien 2024. FSK: Freigegeben ab 12 Jahren. 94 Minuten. Kinostart: 24. Juli 2025. Originalsprecher*innen: Sarah Snook (Grace Pudel), Jacki Weaver (Pinky), Kodi Smit-McPhee (Gilbert), Charlotte Belsey (Grace als Kind), Mason Litsos (Gilbert als Kind), Madga Szubanski (Ruth Appleby) u.a. Drehbuch und Regie: Adam Elliot.

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Grace & Gilbert oder Schicksalsschläge im Schneckenhaus
Nach dem Tod ihrer einzigen Freundin Pinky (Stimme im Original: Jacki Weaver) lässt die junge Grace (Sarah Snook) ihr bisheriges Leben Revue passieren. Kurz nachdem Grace und ihr Zwillingsbruder Gilbert geboren werden stirbt die Mutter. Ihr Vater (Dominique Pinon), ein Straßenkünstler aus Paris, zieht die beiden Kinder alleine groß, verfällt aber nach einem schweren Unfall zusehends dem Alkohol. Nach seinem Tod werden Grace (Stimme als Kind: Charlotte Belsey) und Gilbert (als Kind: Mason Litsos, als Erwachsener: Kodi Smit-McPhee) getrennt und müssen Tausende Kilometer voneinander entfernt aufwachsen. Während ihr Bruder von seiner Adoptivfamilie, fundamentalistischen Christen, auf deren Apfelplantage ausgebeutet wird, so hat Gracie mit ihren neuen Eltern ein wenig mehr Glück, wird aber von diesen oft alleine gelassen. In der mehrfach verwitweten Seniorin Pinky, welche ein bewegtes Leben hinter sich hat, findet Grace, die sich immer wieder zurückzieht, eine wichtige Freundin. Parallel wächst Graces Sammlung an echten und künstlichen Schnecken…
Adam Elliot (geboren 1972) gewann mit seinem Werk Harvey Krumpet (2003) 2004 den Oscar in der Kategorie bester animierter Kurzfilm. Mary & Max oder: Schrumpfen Schafe wenn es regnet? (2009) war das Langfilmdebüt des australischen Animationsfilmkünstlers. Fünfzehn Jahre später erschien sein zweites Werk in Spielfilmlänge. Memoiren einer Schnecke feierte seine Welturaufführung im Juni 2024 beim Internationalen Animationsfilm-Festival im französischen Annecy. Bei den Verleihungen von Golden Globes und Oscars musste sich die australische Produktion in der Sparte Animationsfilm dem lettischen Beitrag Flow geschlagen geben. Memoiren einer Schnecke lief im Mai 2025 bei den Fantasy Filmfest Nights und ist kürzlich endlich in den deutschen Kinos gestartet. Elliot und sein Team zelebrieren hier nicht nur die Schönheit von Stop-Motion-Animation mit Knetfiguren (sogenannte „claymation“), sondern liefern auch eine überaus menschliche Tragikomödie.

Es erscheint bei der Menge an Schicksalsschlägen nachvollziehbar, dass sich die Protagonistin in ihr „Schneckenhaus“ zurückzieht, welches sie nicht nur mit lebenden Schnecken teilt, sondern auch mit allerlei dazu passenden Figuren und anderen Gegenständen vollgestopft hat. Die Leidenschaft für die Tiere hat Grace von ihrer Mutter geerbt. Passend dazu trägt sie eine Schnecken-Mütze mit „Fühleraugen“. Die Begegnung mit der herrlich exzentrischen Pinky bereichert Grace tristes Leben massiv. Doch auch diese Zeiten sind nicht von Dauer.
Adam Elliot, der auch das Drehbuch verfasst hat, packt in die gut neunzig Minuten so Einiges an ernsten Themen: Verlust der Eltern, Mobbing in der Kindheit, Ausbeutung durch Adoptiveltern, Homophobie, christlichen Fundamentalismus, die erwachende Sexualität, (selbstgewählte) Einsamkeit und mehr. Dass Memoiren einer Schnecke dennoch alles andere als überladen wirkt ist allein schon eine herausragende Leistung, weil es Elliot bravourös gelingt, alles in einer in sich völlig stimmigen Geschichte zu vereinen. Analog zur unverzichtbaren Präzision bei der mühevollen Animation der Knetfiguren.
Trotz der immer wieder niederschmetternden Wendungen und Rückschläge kommt Memoir of a Snail (so der Originaltitel) nicht ohne positive Momente und Hoffnungsschimmer auf. Vor allem Graces einzige Freundin Pinky liefert immer wieder wundervolle, treffende Lebensweisheiten und ist nicht selten für die amüsanten Momente zuständig. Diese bilden dann auch inszenatorisch die Farbtupfer in dieser grauen, tristen Szenerie. Für Kinder ist der Film aufgrund seiner Abgründigkeit und gelegentlichen Frivolität nicht geeignet.
Nicht nur optisch und inhaltlich funktioniert Elliots zweiter abendfüllendes Werk prächtig. Der melancholische, von Elena Kats-Chernin komponierte und vom Australian Chamber Orchestra aufgenommene Streicher-Score ergänzt die Atmosphäre perfekt. Mit Sarah Snook (Succession) als Grace, Jacki Weaver (Animal Kingdom) als Pinky, Kodi Smit-McPhee (The Congress) als Gilbert und Magda Szubanski (Ein Schweinchen namens Babe) als Gilberts Adoptivmutter Ruth verfügt Memoiren einer Schnecke über einen hochkarätigen Voice-Cast. Zudem hört man in der Originalfassung noch den Franzosen Dominique Pinon (Die fabelhafte Welt der Amelie), Eric Bana (München) und Musiker Nick Cave in klein(er)en Rollen.
Fazit: Herzerweichender, niederschmetternder, hoffnungsvoller und mit viel Liebe gemachter Stop-Motion-Animationsfilm über ein Leben voller Schicksalsschläge, aber nicht ohne Hoffnungsschimmer. 9 von 10 Punkten.
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Marius Joa, 27. Juli 2025. Bilder: Capelight.


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